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Aktuelles aus der Presse

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Stets zu Diensten

Lange Wartezeiten beim Haus- oder Facharzt, unübersichtliche Zuständigkeiten: Immer mehr „Selbstvorsteller“ drängen in die Notaufnahmen der Kliniken, weil sie sich dort bessere Versorgung erhoffen. Doch das kann dauern. Von Willi Böhmer

Irgendwoher kenne ich die doch“, sagt sich Bernhard Kumle, der Chefarzt der Notaufnahme an der Schwarzwald-Baar-Klinik in Villingen-Schwenningen. Dann fällt es ihm ein: Die Frau saß vorhin schon im Wartebereich des Krankenhauses. Schnell wird klar, dass ihr die Wartezeit dort zu lange gedauert hat. Sie ist deshalb nach Hause gegangen, hat den Rettungsdienst gerufen und sich in die Klinik einweisen lassen. Als Notfall käme sie jetzt sofort an die Reihe – hätte Kumle sie nicht wiedererkannt.

Landauf, landab stöhnen Klinikärzte über den Andrang auch von Menschen mit kleineren Wehwehchen auf ihre Notfallstationen, die eigentlich Schwerkranken und Schwerverletzten vorbehalten sein sollten. Der Trend ist eindeutig: 2009 kamen deutschlandweit 17,5 Prozent der Kranken und Verletzten in Klinik-Notaufnahmen, die Übrigen gingen in Arztpraxen. 2014 waren es bereits 29 Prozent, Tendenz weiter steigend. Das geht aus den vertragsärztlichen Abrechnungsdaten des Jahres 2014 hervor.


Von Andreas Gassen, dem Vorsitzenden der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), kommt bereits die Forderung, zusätzliche Gebühren für die Behandlung in der Notaufnahme einzuführen. Derweil stimmen die Patienten mit den Füßen ab. „Es werden zunehmend Patienten behandelt, die als Selbstvorsteller in die Notaufnahme kommen und eigentlich im niedergelassenen Bereich hätten versorgt werden können“, heißt es in einer Studie des Instituts Aqua für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen.

Samstagnachmittag im Bundeswehrkrankenhaus Ulm, Notaufnahme. Dennis A., 31, hat sich am Vorabend beim Fußballspiel den Knöchel am rechten Sprunggelenk verletzt. Theo H. aus Breitingen, 68, ist Dialysepatient und hat eine entzündete Wunde am Bein. Felix B., 19, war auf einer Party und hat sich dort möglicherweise einen Bänderriss zugezogen. Maximilian E. aus Bernstadt, 19, ist morgens mit Krämpfen und Kopfschmerzen aufgewacht. Er ist bereits im Behandlungszimmer, seine Eltern warten auf ihn, machen sich Sorgen.

Es ist eher ruhig heute, sagt Lukas Ziemer, der in der Anmeldung der Notaufnahme sitzt. Er ist Sanitätssoldat der Bundeswehr, Obergefreiter. „Gestern“, erzählt er, „waren 59 Patienten da.“ Es kam zu langen Wartezeiten. 20 weitere Patienten wurden nach der Anmeldung zum Notdienst der Hausärzte geschickt – die Ambulanz der Kassenärztlichen Vereinigung, die ebenfalls in der Klinik untergebracht ist. Im Gegensatz zur Notaufnahme ist dieser Dienst nur zu bestimmten Zeiten geöffnet, wenn die üblichen Arztpraxen geschlossen haben: wochentags von 18 bis 22 Uhr, an Wochenenden von 8 bis 23 Uhr.

Jeder Patient, der sich in der Notaufnahme meldet, gerät, von ihm unbemerkt, in eine Vorauswahl: Die einen, die möglicherweise etwas Schwerwiegendes haben, werden von Lukas Ziemer übernommen. Sie werden in bedrohlichen Fällen, wie etwa einem Herzinfarkt, sofort nach links in eine Arztkabine geschickt. Die anderen müssen warten. Oder werden zu Angela Jaktin weitergeleitet, die am Aufnahmeschalter der Kassenärztlichen Ambulanz sitzt. Ein Hausarzt hat dort Notdienst. Menschen mit Bauchschmerzen kommen heute zu ihm, andere haben Fieber und Halsschmerzen, ein Patient klagt über ein entzündetes Muttermal.

Schließt die Ambulanz, muss die Notaufnahme der Klinik aktiv werden, auch bei vermeintlichen Kleinigkeiten. Ein diensthabender Arzt, ein Chirurg und ein Internist stehen dann bereit. „Bei uns wird keiner weggeschickt, bevor ihn nicht ein Arzt gesehen hat“, sagt Matthias Helm, Leiter der Sektion Notfallmedizin am BWK. Schließlich könne ein Patient kaum selbst einschätzen, ob sein Zustand ernst oder eher harmlos ist. Folgerichtig füllt sich die Notaufnahme meist am späten Abend, die Nacht über ist es bisweilen übervoll. Dann wird das Warten für die Patienten lang, der Stresspegel steigt – auch beim medizinischen Personal.

Theo H., der Dialysepatient mit Wunde am Bein, ist seit viereinhalb Stunden in Behandlung. Er ist an diesem Nachmittag der einzige, der mit einer Überweisung des Hausarztes die Notaufnahme aufgesucht hat. Die anderen haben sich eigenständig auf den Weg in die Klinik gemacht.

Die Eltern von Maximilian E. haben im Amtsblatt den Hinweis auf den Klinik-Notdienst entdeckt. Der junge Mann heult, von Krämpfen geschüttelt, vor Schmerzen und muss trotzdem warten. Seit zwei Stunden, sagt die Mutter: „Es ist schwer, wenn man sein Kind so sieht.“ Dass sie nicht mit ihm ins Behandlungszimmer darf, nervt sie. Eine Schwester hat ihr gesagt, warum das so ist: Es ist viel zu viel los im Behandlungsbereich. Es geht eng zu, außerdem ist Maximilian volljährig. Die Bitte um Verständnis verhallt bei der Mutter.

Das Warten kostet die Angehörigen jede Menge Nerven. Sie können nichts tun und vor allem nicht sehen, was mit dem Patienten geschieht. „Ich will jetzt einfach nicht mehr warten. Da wird man so ungeduldig“, sagt die Frau von Gerald R., 54. Er konnte sich nach dem Aufwachen nicht mehr bewegen – die Bandscheiben. Wärmflasche und schmerzstillende Tropfen halfen nicht, mit dem Rettungswagen kam Gerald R. ins BWK. Soeben wird er in einem Krankenhausbett vorbeigeschoben, seine Frau springt auf und rennt hinterher.

Torsten I. (56) trifft ein, er humpelt schwer. Mit seinem Sohn hatte er einen Umzugskarton geschleppt, als er einen heftigen Schmerz in der linken Wade spürte. Selbst wenn er zum Hausarzt gegangen wäre, hätte es sein können, dass der ihn umgehend in die Klinik schickt. Dann hätte er riskiert, zweimal warten zu müssen, bevor er behandelt wird. Deshalb hat er gleich die Klinik aufgesucht.

Erdal C., 30, taucht als nächster auf. Er hat sich am Vorabend den großen Zeh heftig angeschlagen. Der Hausarzt ist nicht erreichbar, Kühlung und Salbe hatten keine Wirkung. „Mir war schon klar, dass ich warten muss.“

Marvin D. aus Blaustein ist mit seiner Mutter da. Der 14-Jährige hat sich in einem Lager der Feuerwehr beim Zeltaufbau einen Finger eingeklemmt, der ist über Nacht angeschwollen. Die Praxis des zuständigen Hausarztes hat geschlossen, außerdem gibt es dort kein Röntgengerät, sagt die Mutter.

In den Notfallbereich der Schwarzwald-Baar-Klinik kommen im Schnitt 52 Prozent der Menschen, die medizinische Hilfe suchen, ohne Überweisung vom Haus- oder Facharzt. „Wir nehmen 25 bis 30 Prozent der Patienten stationär auf“, sagt der Chefarzt Bernhard Kumle. Im Ulmer Bundeswehrkrankenhaus liegt die Quote bei 30 bis 40 Prozent. Die Techniker Krankenkasse geht davon aus, dass bundesweit nur etwa vier von zehn der ankommenden Patienten in der Notaufnahme richtig aufgehoben sind.

Kumle hat das Durchschnittsalter der vermeintlichen Notfallpatienten ermitteln lassen: Es liegt bei 36 Jahren. „Wie viele in diesem Alter sind wirklich so schwer krank, dass sie in die Notaufnahme müssen“, fragt er. Und was ist eigentlich ein Notfall? „Ein Patient, der dringend behandelt werden muss, weil er sonst Schaden nimmt“, sagt der Privatdozent Martin Kulla von der Ulmer Bundeswehrklinik. „Das sind nicht so viele.“

„Es gibt nichts, was wir nicht versorgen, vom verstauchten Finger über den Herzinfarkt bis zum schwerstverletzten Unfallopfer“, sagt der Villinger Chefarzt. Jährlich werden in die Schwarzwald-Baar-Klinik etwa 250 lebensgefährlich Verletzte eingeliefert. In der Notaufnahme entscheidet die Dringlichkeit über den Zeitpunkt der Behandlung, nicht die Ankunftzeit eines Patienten. „Wenn Schwerverletzte hereinkommen, werden acht Ärzte abgezogen, um ihn zu retten. Die fehlen dann, andere müssen länger warten“, sagt Kumle. Sollte sich jemand darüber beschweren, verweist er ihn auf einen befreundeten Arzt in Malaysia. „Der zeigte mir ein Schild an seiner Wartezimmertür, darauf stand: Ab hier warten Sie nur noch zwölf Stunden.“

„Die Patienten sehen ja nicht, dass jede Viertelstunde ein Rettungswagen oder ein Hubschrauber mit Schwerkranken eintrifft und alle Behandlungsboxen voll sind“, sagt Helm. Manche werden aggressiv. „Wir hatten zwei bis drei Übergriffe.“ Kumle zählte sogar 45 Attacken in einem halben Jahr. Einer zog ein Messer, ein anderer sprang über den Tresen und bedrohte das Personal, ein Dritter warf mit Eisbeuteln nach den Helfern. Oft sind es Betrunkene, die ausrasten, weil sie warten müssen.

Deshalb ließ die Klinikleitung in der Anmeldung massive Glasscheiben einziehen, installierte eine Überwachungskamera, engagierte einen Sicherheitsdienst und richtete einen heißen Draht zur Polizei ein. „Die Hemmschwelle ist gesunken“, sagt Kumle. „Das gehört in die Kategorie der Schaulustigen an einem Unfallort, die mit dem Handy alles aufnehmen, aber nicht helfen.“

Die Gründe, weshalb Patienten von sich aus direkt den Weg in die Notaufnahme eines Krankenhauses einschlagen, sind vielfältig. Viele fühlen sich dort am besten aufgehoben, sie wissen um die umfangreichen Diagnosemöglichkeiten der Kliniken. Manche haben keinen Hausarzt, andere haben einen Facharzttermin in drei bis sechs Monaten erhalten, brauchen oder wünschen aber eine schnellere Behandlung. Wieder andere können oder wollen nicht in der Arbeitszeit einen Arzt aufsuchen, abends und nachts aber haben die meisten Praxen geschlossen. Auch das veränderte Verhalten der Hausärzte ist ein Faktor, der sich in den Notaufnahmen der Kliniken bemerkbar macht: „Früher war ein Hausarzt 24 Stunden am Tag und 365 Tage im Jahr für seine Patienten da. Heute ist das oft nicht mehr so“, sagt Kumle.

Gleichzeitig sei die Anspruchshaltung der Menschen gestiegen, sagen Helm und Kumle. Das Taxi in die Klinik etwa muss selbst bezahlt werden, der Rettungswagen ist für Kassenpatienten gratis. „Manche sagen, sie zahlen ja Beiträge für die Krankenkasse“, sagt der Bundeswehrarzt. „Und erwarten dafür eine Gegenleistung.“ Eine Klinik sei eben 24 Stunden am Tag und sieben Tage in der Woche geöffnet und damit rund um die Uhr verfügbar. „Wie Amazon.“

Hohenloher Tagblatt / Magazin / 25.08.2018 / Willi Böhmer